Die Freie Musikszene ist ein dynamisches und vielgestaltiges Feld, das sich ständig weiterentwickelt. Dennoch bestehen nach wie vor strukturelle Ungleichheiten, beispielsweise im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit. FLINTA*-Personen (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen) berichten immer wieder von Herausforderungen, die ihnen den Zugang zur und die Behauptung in der freien Musikszene erschweren. Diese strukturellen Hürden sind genreübergreifend ähnlich – nicht nur im Jazz, in Neuer Musik und Alter Musik, sondern auch in Pop und elektronischer Musik, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Der vorliegende Artikel untersucht, welche Rolle Weiterbildung und Vernetzung bei der Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit in der Freien Musikszene spielen könnten.
Durch die Schaffung von Diskursräumen, die Förderung von Austausch zwischen den Genres und die Etablierung umfassender Weiterbildungsangebote lassen sich langfristig strukturelle Ungleichheiten abbauen und ein diskriminierungsfreieres Umfeld schaffen. Dabei ist es jedoch essentiell, zu bedenken, dass solche Maßnahmen nur der Anfang sein können. Politische Handlungen und strukturelle Veränderungen sind ebenso erforderlich, um nachhaltige Verbesserungen zu erzielen.
Status Quo: (Mangelnde) Geschlechtergerechtigkeit in der Freien Musikszene
Trotz leichter Fortschritte bleibt die Musikszene nach wie vor von strukturellen Ungleichheiten geprägt. Studien und Erfahrungsberichte von FLINTA* verdeutlichen, dass patriarchale Strukturen weiterhin die Szene dominieren. Laut der Jazzstudie der Deutschen Jazzunion von 2022 haben 86% der professionellen Jazzmusikerinnen bereits Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts erlebt. Gleichzeitig sind FLINTA* stark unterrepräsentiert: In der Jazzstudie 2022 machten sie lediglich knapp 28 % der Befragten aus. Aber: eine Verbesserung gegenüber 2016, als der Anteil noch bei 19 % lag.
Grundsätzlich sind FLINTA*-Personen laut statistischem Bundesamt in allen gesellschaftlichen Bereichen in Leitungs- und Entscheidungspositionen unterrepräsentiert. Dies trifft auch auf den (institutionellen) Kulturbereich zu: Beispielsweise sind laut des Deutschen Musikinformationszentrums höhere Dienststellungen bei den 21 tariflich höchst vergütenden Orchestern in Deutschland nur zu durchschnittlich 21,9 % von Frauen besetzt. Für den Bereich der Freien Szene exemplarisch durch die Jazzstudie quantifiziert, lässt sich sagen, dass die Probleme hier von ungleicher Bezahlung über geringere Sichtbarkeit bis hin zur strukturellen Benachteiligung bei der Vergabe von Auftrittsmöglichkeiten reichen. Das führt nicht nur zu Ungleichheit – es fehlen in vielerlei Hinsicht auch wichtige Perspektiven, die für nachhaltige Veränderungen notwendig wären. Zudem mangelt es an strukturellen Mechanismen, um auf allen Ebenen Diskriminierung und Ungleichbehandlung entgegenzuwirken. Solche Mechanismen könnten Quotenregelungen, gendersensible Förderprogramme, transparente Vergabeverfahren sowie ausreichend Beratungs- und Beschwerdestellen bis hin zu umfassenden Awarenesskonzepten in Clubs und Spielstätten sein.
Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass nicht alle FLINTA*-Personen gleichermaßen von Diskriminierung betroffen sind. Eine intersektionale Perspektive ist wichtig, da sich verschiedene Diskriminierungsformen überlagern und verstärken. So erfahren beispielsweise schwarze Frauen, trans Frauen oder Menschen mit Behinderung in der Freien Musikszene oft stärkere Benachteiligungen als weiße cis Frauen. Ein umfassender Ansatz zur Geschlechtergerechtigkeit muss diese Überschneidungen mitdenken und gezielt angehen.
Hindernisse des Handelns: Warum Engagement oft ausbleibt
Obwohl viele Menschen mittlerweile das Problem der Geschlechterungerechtigkeit in der Freien Musikszene erkennen und eine Veränderung prinzipiell unterstützen würden, bleibt der Schritt vom Bewusstsein zum tatsächlichen Handeln oft aus. Das kann an mehreren Faktoren liegen:
Cis Männer sehen beispielsweise oft keine oder wenig Dringlichkeit zur Veränderung, wie beispielsweise Rückmeldungen und Befragungen im Rahmen von Workshops und Diskussionen zeigen. Da sie von den bestehenden Strukturen profitieren und selten direkt betroffen sind, fehlt bisher oft eine Sensibilisierung dafür, dass eine Geschlechterungerechtigkeit besteht.
Betroffene FLINTA*-Personen wiederum sind selbst häufig bereits so schon überlastet, da sie ohnehin alltäglich mit Care-Arbeit, Sexismus, Diskriminierungserfahrungen und strukturellen Nachteilen kämpfen. Zusätzlicher gezielter Aktivismus kann für sie eine weitere Belastung sein, die zeitliche Ressourcen bindet und sie daran hindert, an ihrer Musik zu arbeiten.
Erschwerend hinzu kommt die prekäre wirtschaftliche Situation vieler Musiker*innen. Der Fokus liegt oft darauf, genug Auftrittsmöglichkeiten zu bekommen, finanziell über die Runden zu kommen oder einen Proberaum zu finden – Geschlechtergerechtigkeit steht da oft hinten an. Gleichzeitig gibt es auch Angst vor negativen Konsequenzen: Viele Musiker*innen zögern, Missstände anzusprechen, da sie befürchten, dadurch ihre beruflichen Beziehungen zu Veranstalter*innen oder Clubbetreiber*innen zu gefährden.
Ein weiteres Problem ist die schiere Größe des Themas. Viele wissen nicht, wo sie anfangen sollen. Oft wird nur gesagt: “Man müsste etwas tun”, aber konkrete Handlungsmöglichkeiten sind unklar oder scheinen überwältigend.
Weiterbildung und Vernetzung als Schlüsselfaktoren
Workshops und Diskussionsformate, die Wissen vermitteln und den Austausch fördern, können ein erster Schritt hin zu einer diskriminierungsärmeren Musikszene und mehr Engagement sein. Diese Formate können erste Diskurse initiieren, Betroffenen eine Plattform geben, um von ihren Erfahrungen zu berichten, sowie nicht-betroffenen Personen die Möglichkeit zu bieten, im direkten Gespräch von den Ungleichheiten in der Szene zu erfahren. Dennoch bleibt es wichtig zu betonen, dass Bildungsangebote allein nicht ausreichen – sie müssen mit politischen Maßnahmen und strukturellen Reformen einhergehen.
Lernprozesse für Betroffene und Nicht-Betroffene
Ein zentraler Aspekt ist der direkte Dialog zwischen betroffenen und nicht-betroffenen Personen. In geschützten Workshop-Räumen erkennen FLINTA*-Personen, dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind, und sie können sich über Strategien und Lösungsansätze austauschen. Gleichzeitig erhalten nicht-betroffene Personen Einblicke in die Alltagsrealität ihrer Kolleg*innen und entwickeln ein tieferes Verständnis für die strukturellen Missstände.
Genreübergreifende Vernetzung als Chance
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der genreübergreifende Austausch. Unterschiedliche Musikrichtungen haben oft spezifische Herausforderungen, doch es gibt auch viele gemeinsame Probleme. Der Vergleich mit anderen Genres kann wichtige Erkenntnisse liefern: Welche Ansätze funktionieren in anderen Bereichen besser oder schlechter, und warum? Wo sind Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?
Durch den Austausch von Best Practices lassen sich neue Konzepte entwickeln und in unterschiedlichen Kontexten anwenden. Diese Vernetzung kann dazu beitragen, starre Strukturen aufzubrechen und neue Formen der Zusammenarbeit zu etablieren.
Praxisbeispiele: Workshops und Diskursformate in der freien Musikszene Berlins
Ein Beispiel für erfolgreiche Bildungs- und Vernetzungsangebote ist das Workshop-Programm “EMPOWERMENT II – Alte Musik vernetzt” der Vereinigung für Alte Musik Berlin (VAM Berlin). Im Herbst 2024 wurden dort Workshops und Diskussionsrunden angeboten, die sich mit dem Thema geschlechtsspezifischer Ungleichheiten befassten. Diese Formate erwiesen sich als besonders wirkungsvoll, um ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Die Teilnehmenden schätzten sowohl die Wissensvermittlung als auch den Austausch über ihre unterschiedlichen Arbeitsrealitäten. Sie betonten, wie wichtig es ist, dafür einen Raum zu haben und sich bewusst Zeit zu nehmen, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen.
Die Ergebnisse dieser Veranstaltungen zeigen, dass die Kombination aus theoretischer Weiterbildung und praktischem Austausch besonders wirksam ist. Einerseits werden konkrete Werkzeuge und Strategien vermittelt, andererseits entsteht Wissen und ein Netzwerk, das längerfristig zur Veränderung der Szene beitragen kann.
Handlungsempfehlungen für eine gerechtere Musikszene
Um nachhaltige Veränderungen zu erreichen, müssen die erarbeiteten Erkenntnisse kontinuierlich weiterentwickelt und in konkrete Maßnahmen überführt werden. Hier einige zentrale Handlungsempfehlungen:
- Diskurse kontinuierlich führen: Veranstaltungen und Workshops sollten regelmäßig angeboten werden, um das Bewusstsein für Geschlechtergerechtigkeit weiter zu schärfen.
- Selbst aktiv werden: Akteur*innen der Musikszene können eigene Veranstaltungen organisieren, um Wissen zu teilen und Diskriminierungserfahrungen sichtbar zu machen.
- Vernetzung und Wissenstransfer fördern: Interdisziplinärer Austausch zwischen verschiedenen Genres sollte gezielt unterstützt werden, um voneinander zu lernen und innovative Lösungsstrategien zu entwickeln.
- Strukturelle Veränderungen vorantreiben: Langfristige Verbesserungen erfordern politische und institutionelle Unterstützung, etwa durch Quotenregelungen, Förderprogramme und geschlechtergerechte Vergabeverfahren.
- Sichtbarkeit fördern: FLINTA*-Personen müssen gezielt gefördert und in der Öffentlichkeit sichtbarer gemacht werden, um ein breiteres Bewusstsein für ihre Arbeit zu schaffen.
- Intersektionale Perspektiven einbeziehen: Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit müssen auch andere Formen der Diskriminierung mitdenken, um wirklich inklusiv zu sein.
- Hürden des Handelns abbauen: Um die Umsetzung ins Handeln zu erleichtern, braucht es konkrete, niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeiten. Das kann durch gezielte Ressourcen, Mentoring-Programme oder Plattformen geschehen, die Musiker*innen unterstützen, sich zu vernetzen und aktiv zu werden.
- Angst vor negativen Konsequenzen minimieren: Schutzmechanismen und Solidarisierungsstrukturen können helfen, damit sich Betroffene sicher fühlen, wenn sie Missstände ansprechen.
- Realistische Engagement-Modelle schaffen: Da viele Musiker*innen bereits stark ausgelastet sind, können kleine, gut integrierbare Handlungsoptionen – wie kollektive Initiativen oder geteilte Verantwortlichkeiten – helfen, trotzdem aktiv zu bleiben.
Die Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit in der Freien Musikszene ist ein langfristiger Prozess, der kontinuierliche Bemühungen, Engagement, vor allem aber auch politischen und gesellschaftlichen Willen erfordert. Weiterbildung und Vernetzung können dabei eine wichtige Rolle spielen, da sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteur*innen ermöglichen. Nur durch fortlaufenden Dialog und strukturelle Veränderungen kann eine gerechtere, inklusivere Musikszene geschaffen werden.
Gastbeitrag von Linda Ann Davis.
Linda Ann Davis studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Angewandte Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Interdisziplinäre Geschlechterstudien in Münster und Potsdam. Zusätzlich absolvierte sie eine Weiterbildung als Chorleiterin und eine Weiterbildung als Trans*-Beraterin. Sie arbeitet seit 2022 bei der IG Jazz Berlin, seit Mai 2024 ist sie gemeinsam mit Sabine Willig dort die Geschäftsführerin. Neben der IG Jazz Berlin arbeitet Linda auch freiberuflich für die Deutsche Jazzunion als Expertin für die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Diversität im Jazz.